Gut Ding will Weile haben

Ein Erfahrungsbericht von Juliane Kannegießer

Hof Meyerwiede ist eine Lebens- und Arbeitsstätte für Erwachsene mit frühkindlichem Autismus. Durch das Engagement einer Elterninitiative wurde der Hof 1988 erworben und zu einer behindertengerechten Einrichtung mit Wohn- und Arbeitsbereichen ausgebaut. Im Laufe der Zeit wurde die Arbeit auf dem Hof professionalisiert und es gab einige Umbauten und Erweiterungen; zuletzt im Jahr 2009, als eine neue Wohngruppe für sechs junge Erwachsene eingerichtet wurde. Im Zuge dieser Erweiterung bin ich als Werkstattmitarbeiterin zur Betreuung der Weberei eingestellt worden.

In der Weberei haben sieben Personen ihren Arbeitsplatz, darunter auch einer der neuen Bewohner. Philipp, 18 Jahre alt, ist motorisch etwas eingeschränkt und spricht nicht. In der Regel reagiert er auf Ansprache, häufig jedoch mit Abwehr. Wie viel er versteht war mir anfangs unklar und seine Mimik und Gestik waren für mich oft nicht zu deuten. Je nach Tagesform hat Philipp Schwierigkeiten Übergänge zu bewältigen und es kommt öfter vor, dass er wütend wird, wenn er sich zu etwas gedrängt fühlt.

Seine erste Zeit in der Weberei verbrachte Philipp am Spinnrad sitzend, sich umschauend, wobei er dann ab und zu das Schwungrad in Bewegung setzte. Er wirkte damals recht wach und neugierig, aber auch zurückhaltend. Manchmal konnte ich ihn auffordern die Kardiermaschine mit einer Kurbel in Bewegung zu setzen. Dann gab es öfter Auseinandersetzungen, weil er nicht immer in die richtige Richtung drehen wollte oder versuchte zu viel Wolle in die Maschine zu stopfen.

Nach einiger Zeit ließ sein Interesse an den Tätigkeiten in der Weberei nach. Er wirkte oft müde, saß gelangweilt am Spinnrad und war auch nicht mehr dazu zu bewegen an die Kardiermaschine zu gehen. Dann und wann guckte er aufmerksam den anderen Bewohnern in der Weberei bei der Arbeit zu, aber mehr passierte auch nicht. In dieser Zeit habe ich mir öfter Gedanken gemacht, ob die Weberei für Philipp der richtige Arbeitsplatz wäre und ob ein Arbeitsplatz mit aktiveren Anteilen nicht eher für ihn in Frage käme, zumal er auch ab und zu nicht in die Weberei kommen wollte. Intellektuell wirkte er auf mich wesentlich eingeschränkter, als ich ihn anfangs eingeschätzt habe.

Eines Nachmittags, meine Kollegin hatte grade Dienst, kam Philipp von sich aus an den Hochwebstuhl und zeigte deutlich, dass er weben wollte. Jeder Arbeitsschritt wurde für ihn angesagt und ihm musste beim Durchschieben des Schusses geholfen werden, aber er war sehr bereitwillig zu kooperieren. Es war auch zu sehen, dass ihm der Sinn der einzelnen Arbeitsabläufe klar war. Anfangs machte er zwei, drei Schuss, dann zeigte er, dass es ihm reichte. Aber er kam von sich aus immer wieder zum Webstuhl und wollte weben. Im Laufe der Zeit steigerte sich sein Durchhaltevermögen, so dass er inzwischen mehrere Dezimeter am Stück weben kann.

Im Rückblick kann ich sagen, dass Philipp die Zeit in der Weberei auf seine Weise genutzt hat. Das Weben hat er durch Abschauen bei den anderen Bewohnern, die in der Weberei arbeiten, gelernt. Auf Ansage führt er die richtigen Arbeitsschritte aus. Das zeigt, dass er verbal sehr viel mehr versteht als ich ihm anfangs zugetraut habe. Durch das Weben hat Philipp eine größere Frustrationstoleranz und Kooperationsbereitschaft entwickelt. Er ist nicht mehr so häufig fremdaggressiv, wirkt wacher, dehnt seinen Bewegungsradius in der Weberei aus und lässt sich leichter auf neue Erfahrungen ein (neuerdings macht er mit mir zusammen Schussspulen auf dem Spulrad).

Für mich war die Erfahrung des anscheinenden Stillstands bzw. Rückschritts in Philipps Entwicklung ausgesprochen frustrierend. Es fiel mir schwer den Dingen einfach Ihren Lauf zu lassen und abzuwarten was passiert. Heute bin ich froh, dass Philipp seinen Arbeitsplatz in der Weberei nicht verloren hat. Nach wie vor macht er von sich aus deutlich, dass er an dem Webstuhl arbeiten möchte. Ob Philipp jemals ohne fremde Hilfe weben wird, kann ich schwer einschätzen. Aber nach den Fortschritten, die ich im Laufe eines Jahres bei ihm erleben durfte, halte ich das durchaus für möglich.


 
 
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